Spiritualität hat großen Einfluss auf das Wohlbefinden und den Umgang mit einer Krankheit.

Im Folgenden geht es daher um Bedingungen, Aufgaben und Methoden spiritueller Begleitung von Patientinnen und Patienten. Dabei geht es nicht nur um gesundheitsfördernde Funktionen von Spiritualität und ihre Wirksamkeit als Bewältigungsstrategie. Auch ihr Effekt als interkulturelle und interreligiöse Praxis wird gezeigt. 

Spiritual Care wird seit einiger Zeit als multiprofessionelles Feld rund um die Bedürfnisse schwerst-kranker und sterbender Menschen betrachtet. Ebenso wie in den vorhergehenden Krankheitsphasen ist spirituelle Begleitung am Lebensende Aufgabe aller Behandelnden und Pflegenden.

Spiritualität im Gesundheitswesen

Karin Scheer

In medizinischen und pflegerischen Fachzeitschriften hat sich seit den 1980er-Jahren die Anzahl an Artikeln über Spiritualität im Gesundheitswesen vervielfältigt.

In der WHO-Definition von 2002 von Palliative Care wird zum ersten Mal in der neueren Medizingeschichte die Thematik der Spiritualität mit der physischen und (bio-)psychosozialen Thematik im Rahmen der Krankenversorgung auf eine Ebene gestellt:

„Palliative Care ist ein Ansatz, der die Lebensqualität von Patienten und ihren Familien verbessert, die sich mit Problemen konfrontiert sehen, wie sie mit lebensbedrohlichen Erkrankungen verbunden sind. Dies geschieht durch die Verhütung und Erleichterung von Leidenszuständen, indem Schmerzen und andere Probleme (seien sie körperlicher, psychosozialer oder spiritueller Art) frühzeitig entdeckt und exakt eingeordnet werden.“

Die Frage nach der Lebensqualität schließt Spiritualität ein.

Unabhängig von individuellen und kulturellen Unterschieden scheint es für alle wichtig zu sein, sich körperlich wohl und psychisch stabil zu fühlen, sozial integriert zu sein, eigenständig dem alltäglichen Leben nachzugehen und dies in einem möglichst sicheren Rahmen. Entsprechend beinhaltet die Lebensqualität funktionale, emotionale, soziale und psychologische Aspekte, aber auch spirituelle Aspekte.

1 Spirituelle Anamnese erheben: SPIR

Neuere Forschungsergebnisse unterstützen die Meinung, dass Spiritualität einen ebenso großen Einfluss auf die Lebensqualität hat wie das körperliche Wohlbefinden [1, 2]. Frick hat eine „spirituelle Anamnese“ entwickelt, ein halbstrukturiertes klinisches Interview, das in 4 Schritten die spirituellen Bedürfnisse und Ressourcen erhebt:

Spirituelle und Glaubensüberzeugungen:

Würden Sie sich im weitesten Sinne als gläubigen (religiösen/spirituellen) Menschen betrachten?

Platz und Einfluss, den diese Überzeugungen im Leben des Patienten oder der Patientin einnehmen: Sind die Überzeugungen, von denen Sie gesprochen haben, wichtig für Ihr Leben und in Ihrer gegenwärtigen Situation?

Integration in eine spirituelle, religiöse, kirchliche Gemeinschaft/Gruppe:
Gehören Sie zu einer spirituellen oder religiösen Gemeinschaft (Gemeinde, Kirche, spirituelle Gruppe)?

Rolle: Wie soll ich als Ihr Arzt, Ihre Krankenschwester, Ihr Therapeut, Ihre Seelsorgerin mit diesen Fragen umgehen? Wer ist Ihr wichtigster Gesprächspartner in Bezug auf spirituelle Fragen und Glaubensüberzeugungen? Welche Rolle sollen diese Überzeugungen in der ärztlichen Behandlung spielen?

Die Befragung sollte dem Sprachstil des oder der Befragten angepasst sein und kann von allen im Gesundheitswesen Tätigen durchgeführt werden. Laut einer weiteren Untersuchung bevorzugen Patienten und Patientinnen Ärztinnen und Ärzte statt Seelsorgenden, da sie als objektiver wahrgenommen werden. Das Interview wird als Entlastung empfunden [4].

2 Spirituelle Praxis im Arbeitsalltag

2.1 Rahmenbedingungen und Aufgabe spiritueller Praxis

Zum Arbeitsalltag von Pflegenden gehört immer wieder die Auseinandersetzung mit existenziellen und spirituellen Fragestellungen von Patientinnen oder Patienten sowie Bewohnerinnen und Bewohnern im Pflegealltag. Die SPIR-Befragung kann in die Biographiearbeit einfließen. Letztlich geben die Antworten auch Hinweise auf die letzten Wünsche und geben Sicherheit für die Zeit des Sterbens und des Todes.

Von „spiritueller Begleitung“ oder auch ganz direkt von „Seelsorge“ ist die Rede, wenn es darum geht, welche Angebote im Rahmen von Palliative Care zugänglich sein sollen.

In den Texten zur gesetzlichen Krankenversicherung im § 39a Abs. 2 Sozialgesetzbuch V und in den ergänzenden Texten – etwa den Bundesrahmenvereinbarungen zur stationären und zur ambulanten Hospizarbeit – ist die spirituelle Begleitung ausdrücklich genannt.

Onkologen und Onkologinnen sollen – mehr denn je – Diagnostik und Therapie nach allen Regeln der Kunst anwenden und den neuen Qualitätsstandards entsprechen, um Zertifizierungen und Therapieprotokollen gerecht zu werden.

2.2 Spiritualität im Kontakt

Patientinnen und Patienten, denen das Individuelle und Subjektive am nächsten liegt, fragen sich: Warum ich? Was bedeutet diese Krankheit? Was bedeutet die OP, der Verlust der körperlichen Integrität? Wie werde ich aussehen? Wie wirkt sich die Erkrankung auf die Partnerschaft aus? Ist Heilung möglich? Was habe ich an Lebenszeit? Gibt es irgendeinen Sinn?

Die Anerkennung der Würde und der subjektiven Bedürfnisse des und der Einzelnen, auch seiner und ihrer spirituellen und religiösen Vorstellungen, läuft einer objektivierenden Schematisierung und Standardisierung entgegen. Diesem wichtigen Beitrag der Patientinnen und Patienten, ihre Bedürfnisse einzufordern und zu fragen, wird durch Fragen nach der Krankheitsverarbeitung Rechnung getragen.

Krankheitsverarbeitung ist die auf emotionaler, kognitiver, handlungsbezogener und spiritueller Ebene stattfindende Anpassungsleistung an die im Verlauf einer Krebserkrankung auftretenden psychischen, sozialen, spirituellen und körperlichen Belastungen und Veränderungen. Der Veränderungsprozess betrifft nicht nur die Patientinnen und Patienten, sondern auch das gesamte soziale Umfeld. Die Einschätzung, wie effektiv die Bewältigung der Erkrankung gelingt, hängt von den Beurteilenden ab: Für Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegepersonal sind die Compliance und das Ertragen belastender Eingriffe sowie die Anpassung des Patienten oder der Patientin an die Behandlung wichtig, für Patientinnen und Patienten sind die Selbstbestimmung, die Wiedergewinnung der Körperintegrität, das emotionale Gleichgewicht und die Lebensqualität vorrangig.

3 Spirituelle Belastungsreaktionen

Als unmittelbare Stressreaktionen auf belastende Ereignisse wie z. B. eine onkologische Diagnose lassen sich Symptome in allen für den Einzelnen wichtigen Lebensbereichen als physische, kognitive, emotionale, funktionale und spirituelle akute Belastungsreaktionen beobachten.

Hier seien nur die spirituellen genannt: Verlust der eigenen Mitte, Verlust von grundlegenden Überzeugungen, Zerbrechen des eigenen Glaubens, Zorn auf Gott, Gebete scheinen sinnlos, Zorn auf Kirche und Kirchenleute, Gefühl der grenzenlosen Gottverlassenheit, Verlust des Bodens unter den Füßen, Welt ist nicht mehr stabil, Umfeld erscheint lebensfeindlich. „Das macht doch alles keinen Sinn mehr“, ist ein bekannter Satz aus der Praxis. Religiös/spirituell qualifizierte Begleiterinnen und Begleiter sind notwendig, um kompetent begleiten zu können. (Siehe die Standards der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) – Sektion Seelsorge.) Die Entwicklung der Lehrangebote zu Spiritual Care hat zugenommen. Sie erheben den Anspruch, spirituelle Begleitkompetenz zu vermitteln.

4 Gesundheitsfördernde Funktionen der Spiritualität und Religion?

4.1 Entspannungsreaktion

Der Gesprächspsychotherapeut Reinhard Tausch (1996) [3] untersuchte Probandinnen und Probanden mit einem positiven Gottesbild. Ihr religiöser Glaube erwies sich primär als Stress reduzierend.

Stressreaktion kennt jeder: Das Herz rast, die Hände werden schweißnass, Nervosität breitet sich aus. Die kontemplative Ruhe hingegen ist körperlich weniger deutlich wahrnehmbar und ist einzuüben. Die körperliche Repräsentation der Stressreduktion ist für den Psychotherapeuten und die Psychotherapeutin im Kontext seines bzw. ihres Deutungshorizontes eine Entspannungsreaktion, im Kontext und Deutungshorizont der Religionen/der Spiritualität eine dem Glauben zugewiesene Repräsentation. Beider Zugangsweisen ergänzen einander.

Ein Übungsbeispiel: Suchen Sie ein Wort, ein Bild, einen Spruch oder ein Gebet, das Ihnen persönlich wichtig und hilfreich ist, an das Sie glauben. Setzen Sie sich in bequemer Haltung in einen ruhigen Raum, entspannen Sie einzelne Muskeln. Atmen Sie bewusst und langsam, konzentrieren Sie sich auf die Wiederholung und Wahrnehmung Ihres Wortes, Bildes, Spruchs oder Gebets. Nehmen Sie dabei eine passive Haltung ein.

Die Wiederholung und das passive Nichtbeachten auftretender Gedanken ruft rasch und zuverlässig die Entspannungsreaktion hervor (Meditation). Eine Glaubenshaltung wirkt gesundheitsförderlich, wenn sie sich aus einer positiven und herzlichen Gottesbeziehung, einem Glauben an eine größere Kraft entwickelt. Gesundheit und Wohlbefinden hängen von vielfältigen Bedingungen und Einflussfaktoren ab.

4.2 Wirksamkeit von Spiritualität und Religion

Die Religiosität/Spiritualität ist – auch in ihrer positivsten Form – immer nur ein Faktor unter mehreren. Sie ist eingebettet in eine spezifische Persönlichkeitsentwicklung und einen Lebensstil, der sich durch typische Erlebensformen und Bewältigungsstrategien auszeichnet. Spirituell/religiös ist, was jemand als religiös/spirituell bezeichnet. Während Religiosität institutionell gebunden ist, beschreibt Spiritualität die Beziehung eines Menschen zu dem, was sein Leben trägt, kräftigt, erfreut, sein Herz aufgehen lässt, vergleichbar der lebendigen Bewegung von Ein- und Ausatmen, bedeutet „Loslassen“. Innerhalb dieses Rahmens entwickeln sich verschiedene Glaubensstile, die sich sowohl negativ als auch positiv auswirken können.

Spiritualität und Religiosität lassen sich nicht therapeutisch instrumentalisieren oder an Absichten binden. Auf sogenannte messbare Effekte kommt es nicht an, sondern auf die Eröffnung von anderen Wirklichkeiten (Transzendenzerfahrungen), in denen Gesundheit und Krankheit in einem anderen reli­giö­sen/spiri­tuellen Bezugssystem einer neuen Auslegung zugänglich werden.

5 Spirituelle Bedürfnisse und Seelsorge bei Sterbenden

In Fachkreisen hat sich mittlerweile der offene Begriff „Spiritual Care“ etabliert, der im multiprofessionellen Handlungsfeld Palliative Care die spirituellen Bedürfnisse schwerstkranker und sterbender Menschen unabhängig von deren konfessioneller Bindung oder religiös-weltanschaulichen Orientierung insgesamt zu benennen versucht. Spiritual Care trägt dem Umstand Rechnung, dass in Hospizarbeit und Palliative Care nicht nur Menschen mit einem christlich geprägten Hintergrund begleitet werden und begleiten. Spiritual Care nimmt die plurireligiöse und multikulturelle Gesellschaft mit ihren individuellen Ausprägungen von Glauben und Religiosität wahr und ernst und achtet die Gleichberechtigung unterschiedlicher Religionen, Wertesysteme und Weltbilder. „Spiritual Care“ meint die Sorge für den Patienten und die Patientin, die Entwicklungsraum ermöglicht, sowie die Sorge der oder des Pflegenden bzw. Behandelnden für sich selbst.

Literatur

  1. Frick E, Riedner C, Fegg MJ, Hauf S, Borasio GD (2006). A clinical interview assessing cancer patients’ spiritual needs and preferences. Eur J Cancer Care 15: 238–243
  2. Brady MJ, Peterman AH, Fitchett G et al (1999) A case for including spirituality in quality of life measure­ment in oncology. Psycho­oncology 8: 417
  3. Tausch R (1996) Empirische Untersuchungen zu Sinn-Erfahrungen und Wertauffassungen. Medizin­ethische Materialien, Heft 107
  4. Heller B, Heller A (2009) Das Jahresheft Praxis PalliativeCare/demenz, Spiritualität und Spiritual Care